Literarische Temporalistik

Zeit als Reisephänomen

Die Auffassung, Zeit als vierte Dimension zu betrachten, wurde eine ganze Weile vor Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie geäußert. H. G. Wells läßt in seinem Roman The Time Machine den Helden der Geschichte sagen. "there is no difference between time and any of the three dimensions of space, except that our consciousness moves along it." Wells' Roman markiert den Anfangspunkt der modernen Zeitreisegeschichten. In der Science Fiction Literatur nimmt die Zeitreise einen beträchtlichen Stellenwert ein, nicht zuletzt deshalb, weil sich durch die Konstruktion entsprechender Zeitparadoxa reizvolle Geschichten ausspinnen lassen.

Wird der Begriff der Zeitreise weiter gefaßt, dann muß tiefer in der Vergangenheit gegraben werden.

Was ist eigentlich Zeitreise? Unser technisch orientiertes Leben neigt dazu, sich zu jeder Art von Tätigkeit einer Hilfseinrichtung oder einer Maschine zu bedienen. Sei es, um die Bequemlichkeit zu fördern (Auto ersetzt Fußmarsch) oder den Zweck des Vorhabens überhaupt zu erzielen (Mit der Tauchglocke auf den Meeresgrund). Gerne wird übersehen, daß schon vor langer Zeit Konzepte des Blickes in die Zukunft geschaffen wurden. Nutzte man nicht schon früher die Fähigkeiten bestimmter Menschen, in die Zukunft zu sehen? Muß eine Zeitreise stets physisch erfolgen?

Viele Erzählungen des Altertums beschreiben, wie sich Personen der Hilfe eines Orakels oder eines Sehers versichern, um einen Blick in die Zukunft zu tun. Der Versuch, aus dem - oft dunklen - Orakelspruch Maximen des eigenen Handelns abzuleiten, endet in der Katastrophe: Gerade die Handlungsweise, die das zukünftige Geschehen abwenden soll, führt zum unerwünschten Ergebnis.

Stanislaw Lem

Stanislaw Lem, Pole, Jahrgang 1921. Lems Schreibart wird oft leichtfertig der Science Fiction zugeordnet, doch sein Werk enthält mehr als vordergründige Abenteuer, die der seichten Unterhaltung dienen. Ein wiederkehrendes Motiv in Lems Erzählungen ist die Zeitreise, sei sie vorsätzlich oder unbeabsichtigt.

Ion Tichy ist einer der Lemschen Helden: Ein weit herumgekommener Weltraumfahrer, dessen Erlebnisse in den Sterntagebüchern niedergelegt sind. Die Reisen sind numeriert, doch durch die Zeitreiseabenteuer sind sie weder in der Reihenfolge ohrer Numerierung niedergeschrieben, noch gibt es eine erste Reise. Dafür sind die neunzehnte und die einundzwanzgste Reise identisch.
Tichys Rakete ist, wie aus den unterschiedlichen Reisebeschreibungen zu erahnen ist, technisch weder auf dem neuesten Stand, noch besonders zuverlässig - ich scheue mich zu schreiben: "weltraumtauglicher Schrotthaufen". Doch der gewitzte Held arrangiert sich.

Stanislaw Lem: Sterntagebücher / die siebente Reise

In der neunzehnten Reise versagt Tichy die Steuerung seiner Rakete. Um sie zu reparieren, bräuchte Tichy einen Helfer, der den zweiten Schraubenschlüssel hält, um die alles entscheidende Mutter anzuziehen. Glücklicherweise befindet sich Tichy in der Nähe einer Sternformation, in der schon Fälle von Personenverdoppelungen, ja sogar -verdreifachungen beobachtet wurden. Mit Mühe korrigiert er ein wenig den Kurs und lenkt seine Rakete geradewegs in die Zeitstrudel.
Nun entspinnt sich eine ergötzliche Geschichte, in der sich der Held innerhalb von Zeitschleifen immer häufiger begegnet, sich mich sich selber streitet und ob seines Starrsinns schimpft. Tichy schlägt sich auf Umwegen im Verlauf der Reise eine kräftige Beule, belügt sich und futtert in einer Sekunde der seelischen Not schändlicherweise seinem vergangenem/zukünftigen Selbst seinen eisernen Vorrat an Schokolade weg. Und vor lauter Zeitparadoxa und Streitereien kommt er nie dazu, seine Steuerung zu reparieren. Zumal er übersehen hat, seinen Raumanzug vor der Verdoppelung anzuziehen, so daß im entscheidenden Moment nur ein Anzug vorhanden ist. Ein Mangel, der sich offenbar durch die Häufung der Zeitstrudel beheben ließe und dennoch: "...Eine Anzahl Personen hatte Beulen und ein blaues Auge, und fünf der Anwesenden trugen einen Raumanzug. Doch anstatt sofort durch die Klappe zu gehen, um den Schaden zu beheben, begannen sie zu streiten, zu feilschen, zu diskutieren und zu zanken..." [Sterntagebücher, S. 29] .Im Verlauf der Geschichte werden einige sehr interessante Aspekte deutlich:

Das wirft Fragen auf. Mit welchem Recht kann Tichy annehmen, daß sich der Raumanzug verdoppelt, wenn er ihn trägt? Verdoppelt sich z.B. die Armbanduhr des Raumfahrers? Die Stiefel oder die Kleidung? Was erheblich ungünstiger wäre: Gilt die Verdoppelung (nicht) für ein Gebiß oder gar einen Herzschrittmacher? Muß ein Gegenstand mit der Raumfahrer physisch verbunden sein, um die Verdoppelung zu erfahren? Aber warum dann nicht die Rakete? - schließlich ist Tichy mit ihr über seine Füße oder Hände verbunden. Fragen, die sich in ähnlicher Form stellen, will man eine Zeitmaschine bauen. vgl. dazu abgewandte Temporalistik.

Wie Tichy siner Notlage entkommt, möge der neugierige Leser selbst herausfinden...

Stanislaw Lem: Sterntagebücher / die einundzwanzigste Reise

In dieser Reise - identisch mit der neunzehnten - hat der Leser einige Tagebuchblätter vor sich, die der Reisende Tichy in Kürze in ein leeres Sauerstofffäßchen stecken und dem All übergeben wird. Anfang und Ende der Erzählung sind identisch; bis zum Schluß wird nicht klar, wieviele Personen denn nun im Raumschiff reisen, ob Tichy sein eigener Vater ist, oder ob er sich nur in den Schleifen eines Hingespinstes dreht.

Stanislaw Lem: Sterntagebücher / Aus Tichys Erinnerungen IV

Ein Zeitmaschinenerfinder namens Molteris klopft bei Tichy an die Tür, dringt in seine Behausung ein und präsentiert sein Werk. Molteris mangelt es an Geld und - an Zeit. Ein improvisiertes Experiment überzeugt Tichy: "...>>Haben Sie einen Gegenstand, von dem Sie sich [...] trennen können?<< [...] in einer Ecke nahe dem Bücherschrank; ein dunkelrotes Buch im Oktavformat; es lag auf dem Fußboden, als ob es jemand dorthin geworfen hätte. [...]  Ich stellte das Buch ins Regal [...] jetzt jedoch nach Molteris' Worten, kam mir der dunkelrote Rücken [...] wie von selbst in die Hand; wortlos reichte ich ihm das Bändchen. [...] Er legte das Buch flach in den Apparat und drückte einen kleinen schwarzen hebel herunter. [...] im nächsten Augenblick war das Buch verschwunden. [...] >>Es hat sich in der Zeit verschoben<< sage er, [...] >>Ungefähr um einen Tag<< [...] Ich begriff  [...] verband ich beide Fakten miteinander: das gestrige, so unerklärliche Erscheinen des Buches an ebendieser Stelle [...] und sein gegenwärtiges Experiment." [Sterntagebücher, S. 400-401] Tichy wird Zeuge, wie der Erfinder Molteris seine Maschine besteigt und abreist. In den Sekundenbruchteilen, die die Maschine sichtbar bleibt, erlebt Tichy, wie der Erfinder rasend schnell altert und in sich zusammensinkt - er hatte nicht vollständig bedacht, daß eine Zeitreise offenbar auch den Körper des Reisenden einer zeitlichen Alterung unterwirft - ein Motiv, das in umgekehrter Form als Verjüngung in der xxxten Reise aufgegriffen ist.

Auch hier wieder zwei aufschlußreiche Ideen:

Interessant ist, daß das Buch auf dem Boden lag, zu einem Zeitpunkt, da es hätte im Regal sein sollen. Die noch offene Frage ist: War das Buch zum Zeitpunkt des Auffindes auch im Regal und Tichy hat dort nicht nachgesehen? Nein, natürlich muß er nachgesehen haben, stellte er doch das Buch an seinen vorgesehenen Platz: "Wie Sie wissen, bin ich ein Pedant, [...] Besonderes Gewicht messe ich der Ordnung meiner Bibliothek bei" [Sterntagebücher, S. 400]. Hier liegt ein echtes Zeitparadox vor! Wo war das Buch vor seinem Auffinden auf dem Boden?

Stanislaw Lem: Sterntagebücher / Zweites Vorwort

Im Vorwort zur erweiterten Ausgabe, verfaßt durch Professor Tarantoga (ebenfalls ein Lemscher Protagonist), erfahren wir, daß sich zu aller Bedauern auch Ion Tichy nicht mehr unter uns weilt: "...I. Tichy hat, als er sah, wozu die Verzuche der Ausbesserung der Vorgeschichte und der Geschichte führen, in seiner Stellung als Direktor des Temporalen Institutes etwas getan, was schließlich bewirkt hat, daß es nicht zur Theorie der Zeitvehikel und des Transpüortes in der Zeit gekommen ist. Da auf sein Betreiben hin diese Entdeckung wieder >> zugedeckt<< wurde, sind das Programm der Telechronischen Ausbesserung der Geschichte, das Temporale Institut und leider auch I. Tichy selbst als sein Direktor verschwunden." [Sterntagebücher, S. 10]

Filmischer Exkurs: Die Zeitmaschine

Aufgabe: Den Film "Die Zeitmaschine" von George Pal ansehen! Der Film leht sich an die Vorlage von H.G. Wells an. Am Anfang des Films philosophiert eine Herrenrunde über das Wesen der Zeit und die Reise durch die Zeit. Der Held der Geschichte, der Erfinder der Zeitmaschine, zeigt ein kleines, aber funktionsfähiges Modell, das lebhaft an die Kreuzung eines Hundeschlittens mit einem waagerecht gelegten japanischen Schirm erinnert. Um zu beweisen,daß die Maschine wirklich durch die Zeit reist, wird die Maschine in Betrieb gesetzt, die daraufhin den Blicken entschwindet.

xxxx

Eine Zeitreise könnte aus dem Inneren der Maschine dann so aussehen: Mit einem Einstellhebel oder "Gaspedal" erhöhen wir die "Geschwindigkeit" und die Außenwelt schnurrt immer rascher an uns vorbei, ähnlich wie in einem Zeitraffer. Im Film "Die Zeitmaschine" ist das schön zu beobachten. Der Held unternimmt immer ausgedehntere Fahrten, wobei er die "Geschwindigkeit" immer größer wählt. Besonders hübsch ist die Kameraeinstellung, die den Zeitreisenden - samt Zeitmaschine - von außen zeigt, wie er durch die Zeitläufte rast.

Aufschlußreich, daß die Maschine an ihrem geographischen Ort verharrt, ungeachtet der beträchtlichen Rotationsgeschwindigkeit der Erde um ihre eigene Achse oder um die Sonne.

Etwas realistischer ist da schon die Kurzgeschichte xxx von yyy zu bewerten: der Reisende bewegt sich nur eine Stunde in die Zukunft, doch als er zurückkehrt, ist er tot. Die explosive Dekompression im Weltall und ein Mikrometeorit, der ihn durchschlug, waren die Ursache.

Carl Amery: Das Königsprojekt

Ein Roman, der in eine etwas abgelegene Welt führt. Auch so kann man gute Literatur schreiben: Die katholische Kirche hütet einen unermeßlich kostbaren Schatz: eine Zeitmaschine. Sie wurde vom größten Ingenieur aller Zeiten erbaut, von Leonardo da Vinci. Ausgewählte Offiziere der Schweizer Garde erhalten, sprachlich entsprechend geschult und mit den notwendigen Mitteln ausgestattet, verschiedene Aufträge, die Vergangenheit im Sinne der Kurie zu korrigieren. Allerdings hat sich bereits herausgestellt, daß zu massive Eingriffe nicht möglich sind, da sie den Zeitreisenden verschwinden ließen und zu ungeklärten Vorfällen führten. Durch Intrigen und Nachlässigkeiten geht am Ende des Romans die Maschine unwiederbringlich verloren. Einer der Handlungsstränge läßt die Hauptfigur, der Offizier Franz Defunderoll, sich selbst begegnen. Der junge Defunderoll, noch nichts von seinem Abenteuer ahnend, erkennt sein Gegenüber nicht, der sich in merkwürdigen Anspielungen als jemand zu erkennen gibt, der erschreckend viel über das "Königsprojekt" weiß. Unbedingt lesen!  

Howard Phillips Lovecraft

Der inzwischen als klassischer Autor des SF- und Horror-Genre geltende amerikanische Autor (1890-1937) benutzte ausgiebig deas Zeitreisemotiv in unterschiedlichen Varianten. Bei Lovecraft ist alles gößer, unerhörter, kosmischer. Seine Protagonisten erleben nicht nur einen Zeitversatz um wenige Jahre, nein, es können auch Jahrhunderttausende sein.

H. P. Lovecraft: Der Silberschlüssel und Durch die Tore des Silberschlüssels

Zwei zusammengehörige Stories, in denen der Held Randolph Carter eine Schatulle mit einem geheimnisvollen Shlüssel erhält.

H. P. Lovecraft: xxx

Der Reisende reist, wie es anfangs scheint, nur als Träumender in eine fern zurückliegende Vergangenheit. Er nimmt dort den Körper eines Individuums der damals auf der Erde herrschenden Rasse ein, und vollzieht dort seine wissenschaftlichen Studien. Die Aufzeichnungen aus diesen Arbeiten legt er auf extrem dauerhaften Material nieder. Die Anwesenheit in der fremden Zeit, im fremden Körper wird immer beklemmender, weil sie von der subjektiv erlebten Wirklichkeit nicht mehr unterscheidbar ist. Von seiner Reise zurückgekehrt, nimmt der Ich-Erzähler an einer Expedition in die Südpolarregion teil, um dorch archäologische Studien in neu entdeckten Gebäudekomplexen zu betreiben. Der zerfallene, uralte Ort kommt ihm vetraut vor; es ist ein déja-vu-Erlebnis der besonderen Art: hier forschte und studierte er vor Äonen. Der endgültige Beweis ist das Auffinden der alten Dokumente, die er an der Handschrift als seine eigenen erkennt.

Robert A. Heinlein

Heinlein (1900-) gilt als populärer SF-Autor, der einige Klassiker verfasst hat. Für uns ist die Erzählung Im Kreis von besonderem Interesse, hat sie doch eine ausgedehnte und verwickelte Zeitreise des Helden zum Inhalt. Was aufschlußreich ist: egal, was der Held unternimmt, er kann die Vergangenheit nicht ändern, und wie er zu spät merkt, auch die Zukunft nicht, da sie für sein späteres Selbst ebenfalls schon Vergangenheit ist.

Eine höcht interessante Verwicklung ergibt sich aus der Zeitschleife, die Information aus dem Nichts erschaft. yyy

R. A. Lafferty: xxx

Eine ergötzliche short story, die in mehreren Mini-Episoden immer das gleiche Szenario wiedergibt: Einige Wisenschaftler/Programmierer, die einen enorm leistungsfähigen Computer zur Verfügung haben (der Computer nimmt übrigens aktiv an den Disputen teil). Die Aufgabe: Eine Zeitreise und der Bericht aus einer anderen Epoche. Obwohl sich in jedem Durchgang des Szenarios die Äußerlichkeiten drastisch ändern, ist den Handelnden die Veränderung nicht bewußt. Sie haben nämlich auch ihre ganze Erfahrung, ihre Ausbildung basierend auf der Veränderung erhalten und so sind sie jedesmal enttäuscht, daß sich nichts getan hat. Tatsächlich stolpern sie in ihrem Drang nach der Erkenntnis immer weiter von Panne zu Panne mit immer geringerer Aussicht auf Rückkehr. Im letzen Abschnitt (der Computer ist inzwischen ein Totem, die Programmierer Medizinmänner) scheint lediglich das Totem gemerkt zu haben, daß etwas nicht stimmt - in einem Kraftakt wird die Ausgangssituation wiederhergestellt. Die Erinnerung auch - nur das Abenteuer ist vergessen. Dennoch habe alle Beteiligten das merkwürdige Gefühl, ihren Versuch besser nicht zu unternehmen.

Walter Moers

In den erstaunlichen Entdeckungen des Professor Schimauski begegnet uns unvermittelt eine recht praktikable Zeitmaschine. Schimauski entdeckte durch Zufall, daß er in der Zeit reisen kann, wenn er das Rädchen an seiner Armbanduhr dreht. Flugs baute er einen Hochleistungsmotor an, denn "Ein Beispiel: Ich möchte gerne 100 Jahre zurück in die Vergangenheit reisen, ja? das sind genau 876000 Stunden. Wenn ich jetzt per Hand meine Uhr zurückstelle, brauche ich pro Stunde etwa 3Sekunden. Ich müßte also, wenn ich um 100 Jahre zurückreisen zu können, zweimillionensechshundertachtundzwanzigtausend Sekunden ununterbrochen am Rädchen meiner Uhr drehen! Das ist etwa ein Monat! Wahnsinn!". Wieder sind wir beim Reisefaktor angelangt.

Wer die 13 1/2 Leben des Käpt'n Blaubär kennt, weiß, daß man mit einem Dimensionsloch ebenfalls sehr einfach zeitreisen kann.

...nach Zamonien 

weiter im Text


Stand: 01.03.2004 /
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